Sonntag, 15. Juli 2012

Im Land der Orangenblüten

Im Land der Orangenblüten (Linda Belago)

"Im Land der Orangenblüten" ist ein fesselnder Roman, aus dem man erst wieder auftauchen kann, wenn man ihn zu Ende gelesen hat. Von der ersten Seite an gelangt man leicht in das Geschehen und lernt die Persönlichkeit des Hauptcharakters Juliette, auch Julie genannt, kennen. Eine kleine Szene aus dem Leben mit Ihren Eltern gibt dem Leser die Möglichkeit, Julies gewohnte Welt zu sehen, aus der sie plötzlich gerissen wird. Durch einen Unfall verliert die noch minderjährige Julie ihre geliebten Eltern und steht von einer Sekunde auf die andere als Waise da. Ihr Onkel als einziger Verwandter übernimmt nur widerwillig die Vormundschaft für das Mädchen. Einen gewissen Trost bietet ihm jedoch dessen Erbe, worauf der Geschäftsmann sein Auge geworfen hat.

Um sie nicht allzu viel in seine Familie integrieren zu müssen, schickt er das Mädchen in ein Internat. Kurze Einblicke in Julies Internatsleben im Zeitraffer zeigen, wie es dem Mädchen erging und verdeutlichen ihren Gemütszustand. Doch auch an Einsamkeit und Hilflosigkeit zerbricht Julie nicht und schließlich führt auch ein Umbruch im Internat dazu, dass sie doch noch Zuwendung und Freundschaft erfährt. Leider hält Juliettes Glück nicht lange. In den alljährigen Winterferien im Hause ihres Onkels, der einzigen Zeit, in der dieser Wert auf eine Familienzusammenführung legt, lernt das Mädchen Karl Leevken kennen. Der Geschäftspartner versteht es, seine Rolle als charmanter Eroberer zu spielen und gewinnt Julies Herz. Von dem Arrangement zwischen ihm und ihrem Onkel ahnt die gutgläubige Julie nichts. Sie willigt ein, Karl zu heiraten und mit ihm nach Surinam zu gehen.

Schon kurz nach der Hochzeit muss sich ihr frisch angetrauter Ehemann nicht mehr verstellen und sein wahres Ich lässt erahnen, was Julie in ihrem neuen Leben noch erwarten wird. Bereits während der langwierigen Reise nach Surinam fragt man sich als Leser nicht wenige Male, wie es ein so junges Mädchen schafft, so stark zu bleiben. Würde man nicht selbst daran zerbrechen? Wie lange könnte man das aushalten? Müsste man das überhaupt aushalten? Die damaligen Verhältnisse sind für eine moderne Frau kaum vorstellbar. So selbstverständlich wie wir heute eine gleichberechtigte Beziehung leben, empfinden wir Julies Welt umso schockierender. Und so fiebern und leiden wir mit, und hoffen bei kurzen Glücksmomenten, dass sie länger anhalten mögen.

Julies neue Heimat konfrontiert sie schnell mit den dortigen Gepflogenheiten. Sklaverei und die Selbstverständlichkeit, wie grausam die Kolonisten mit diesen Leuten umgehen, lassen der frisch Verheirateten keine Ruhe. Sie hat Mitleid mit diesen Menschen und kann den Zustand nicht auf sich beruhen lassen. Nicht nur einmal zieht sie damit den Zorn ihres Mannes auf sich. Auch in der fast gleichaltrigen Stieftochter hat sie keine Verbündete und deren Verlobter scheint an Boshaftigkeit und Hinterlistigkeit ihren Mann noch zu übertreffen. Julie leidet. Als ob ihre eigene Situation nicht schon aussichtslos genug scheint, geht sie immer wieder ein weiteres Risiko ein, wenn sie sich mit den Sklaven abgibt oder gar zu nett zu ihnen ist. Doch der Wunsch, zu helfen, ist größer und die einzige Aufgabe, die Julie noch in ihrem Leben sieht.

Im Laufe der Erzählung treten neue Charaktere aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten in die Handlung. Mit kurzen Abschweifungen an einen anderen Ort des Geschehens erhält der Leser nicht nur einen Umriss der neuen Darsteller und deren Charakter, sondern erlebt die Realität der Kolonialzeit im fernen Surinam aus verschiedenen Blickwinkeln, bis sie Juliettes Weg kreuzen.

Wie bei dieser Art von Romanen üblich, beginnt sich Julies Blatt irgendwann langsam zu wenden. Doch umso mehr erfährt sie auch enorme Rückschläge, die Spannung steigt und die Ereignisse überschlagen sich. Rechnet man als Leser auch mit dem wohlverdienten Happy End, weiß man nicht, wann und wie und welche Charaktäre es bis dahin schaffen werden. Viel zu lange dauert es, bis Julie endlich in Frieden und Glück leben kann und viel zu schnell ist die letzte Seite ausgelesen und man steht als Leser wieder in der eigenen Realität. Schlimmer als eine Werbepause oder jedes Staffelfinale.

Linda Belago hat es geschafft, mich von der ersten Seite an zu fesseln und in das Buch zu ziehen. Hätte es nicht sein müssen, hätte ich das Buch wohl kaum aus der Hand gelegt. Eine Schriftstellerin, nach deren Büchern ich meine Augen offen halten werde.[rs]